Der TRR erklärt

Entropie – Unordnung und ihre Bedeutung für chirale Verbindungen

Der österreichische Physiker Ludwig Boltzmann hat eine Größe definiert, die man Entropie nennt. Sie ist umso größer je wahrscheinlicher ein Zustand ist, den ein bestimmtes System einnehmen kann. Die Gleichung, die die Entropie S mit der Wahrscheinlichkeit W verbindet, ist sogar auf seinem Grabstein verewigt und beinhaltet die sogenannte Boltzmann-Konstante k (k = 1.38 x 10-23 J K-1).

Picture by Martin Röll from Dresden, Germany, Boltzmann (427167382)CC BY-SA 2.0

Wir wollen hier der Frage nachgehen, inwieweit die Entropie in unserem Alltag eine Rolle spielt und was sie konkret für chirale Verbindungen bedeutet (⇒ Chiralität).

Entropie als Maß für die Unordnung

Sehr vereinfachend wird von der Entropie als ein Maß für die Unordnung gesprochen. Das ist zwar wissenschaftlich nicht sauber, erlaubt uns jedoch, die Tatsache zu verstehen, dass Veränderungen an einem System in der Regel mit einer Erhöhung der Entropie einhergehen. Das Ausleeren einer Schüssel mit Klemmbausteinen führt nach unserer Erwartung nicht dazu, dass der erste Fall (a) eintritt, bei dem alle Bausteine der Farbe nach sortiert sind. Wer diesen Fall schon beobachtet hat, möge sich bitte melden!

(a) Ausschütten von Klemmbausteinen: Unwahrscheinliches Geschehen (Abnahme der Entropie)

© by CRC 325
© by CRC 325

Vielmehr gehen wir realistischerweise davon aus, dass die Situation (b) eintrifft. Die Bausteine liegen durcheinander am Boden und wir müssen, wenn wir den Zustand (a) erhalten wollen, Arbeit aufwenden, damit die Entropie verkleinert wird.

(b) Ausschütten von Klemmbausteinen: Wahrscheinliches Geschehen (Zunahme der Entropie)

© by CRC 325
© by CRC 325

In ähnlicher Weise erwarten wir, dass wir beim Ausschütten einer größeren Menge von Münzen einen Zustand beobachten, in dem die Münzen zu etwa gleichen Teilen mit dem Kopf und mit der Zahl nach oben zeigen. Wir erwarten also für diesen Fall die Situation rechts (Kopf und Zahl durcheinander) gegenüber der Situation links (nur Zahl oben).

© by CRC 325
© by CRC 325

In einem Gedankenexperiment könnte man sich überlegen, was passiert, wenn man in der geordneten Situation (links) nacheinander immer eine einzelne Münze aufhebt und dann wieder fallen lässt. Auch hier würde man erwarten und es auch experimentell bestätigen können, dass man, nachdem man den Prozess häufiger durchgeführt hat, eine in etwa gleichmäßige Verteilung von Kopf und Zahl erhalten würde.

 

Das Racemat als ungeordnetes System

Chirale Verbindungen, die ein einziges stereogenes Zentrum enthalten, kommen in zwei Formen vor, die sich wie Bild und Spiegelbild verhalten. Die beiden enantiomeren Formen, also das Bild und das Spiegelbild eines Moleküls, sind hier als Tetraeder (vierflächiger Körper) wiedergegeben. In der Tat ist es zunächst unwichtig, welche konkrete Verbindung gemeint ist.

Typischerweise kann ein Enantiomer nicht in ein anderes Enantiomer umgewandelt werden, aber es gibt bestimmte Reaktionsbedingungen, unter denen diese Umwandlung möglich ist, z.B. wenn man Aminosäurederivate mit starken Basen behandelt. Wenn die beiden Enantiomere durch eine solche Reaktion im Gleichgewicht sind, dann wird die Zunahme der Entropie zur treibenden Kraft. Der wahrscheinlichste Zustand wird eingenommen, und in Analogie zur Situation mit den Münzen gibt es auch hier keine Ausnahmen: Das Racemat, also das 1/1-Gemisch der beiden Enantiomere, wird erhalten. Dabei ist zusätzlich zu bedenken, dass wir es – selbst dann, wenn wir nur Gramm-Mengen einer Verbindung umsetzen – nicht mit 16 Molekülen zu tun haben, wie hier abgebildet, sondern mit einer riesigen Zahl von 1 000 000 000 000 000 000 000 (1021) Molekülen oder noch mehr.

Normalerweise fallen chirale Produkte in einer chemischen Reaktion als Racemat an, so wie die Münzen, wenn man sie fallen lässt. Die Trennung ist zeit- und energieaufwändig, so wie wenn man im obigen Fall der Münzen selektiv die Münzen auslesen muss, die mit der Zahl- oder der Kopfseite nach oben liegen.

 

Photochemische Deracemisierung

Die oben beschriebene Situation, die Bildung eines Racemats, ist thermisch nicht umkehrbar (irreversibel), genauso wie sich die Klemmbausteine nicht durch kräftiges Rühren nach der Farbe sortieren lassen. Es ist ein Phänomen der Photokatalyse, dass es nur mit ihrer Hilfe gelingt, das System in Richtung des höher geordneten Zustands zu verändern. Man kann also photochemisch (hv ist das Symbol für die Energie des Lichts) aus einem Racemat unter Verwendung eines geeigneten chiralen Katalysators ein Racemat in eine enantiomerenreine Verbindung umwandeln. Das Licht bringt also die Energie auf, um die energetisch ungünstige Abnahme der Entropie zu kompensieren.

Will man die Wirkungsweise eines solchen Katalysators verstehen, dann hilft ein Gedankenexperiment. Wir stellen uns bei den Münzen, die wir weiter oben besprochen haben, vor, dass wir in ungeordneter Folge Kopf und Zahl haben, also den rechten ungeordneten Zustand (der dem Racemat entspricht). Wir stellen uns weiter vor, dass es nun einen Automaten gäbe, der selektiv nur und wirklich nur die Münzen aufhebt, die mit dem Kopf nach oben liegen, und sie wieder auf den Boden wirft. Es würde dann bei jedem Wurf mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% das Ereignis Kopf oder Zahl eintreten. Die Münzen, die mit der Zahl nach oben zeigen, lässt der Automat liegen. Wenn er lange genug arbeitet, dann liegen alle Münzen am Ende mit der Zahlseite nach oben.

Genauso arbeitet der Katalysator einer Deracemisierung. Er erkennt eines der beiden Enantiomere (im gezeigten Fall das „Bild“) und überführt es mit Licht als Energiequelle statistisch entweder in sich selbst („Bild“) oder in das andere Enantiomer („Spiegelbild“). Man bezeichnet diesen Prozess als Racemisierung und das dazugehörige Verb (Tunwort) lautet „racemisieren“. Der Prozess setzt sich immer weiter fort, bis alle Bilder in Spiegelbilder überführt worden sind. Am Ende bleibt im Idealfall ein enantiomerenreines Produkt übrig. Die Energie für diesen Prozess liefert das Licht.

Allerdings kann man den Katalysator nicht beliebig lange dem Licht aussetzen, wenn er nichts mehr zu tun hat. Er wird dann nämlich zerstört, weil er seine Energie nicht mehr loswerden kann. Man muss daher Deracemisierungsreaktionen dann beenden, wenn sich die bestmögliche Enantiomerenreinheit für das jeweilige Produkt eingestellt hat. Das Phänomen der Deracemisierung hat eine hohe Relevanz für die Herstellung enantiomerenreiner chiraler Verbindungen, die wiederum für viele Lebensvorgänge von zentraler Bedeutung sind (⇒ Chiralität).

Da in einer photochemischen Deracemisierung das Licht auf einen Molekülverbund des Katalysators mit dem chiralen Molekül trifft, werden im Transregio 325 neue Katalysatoren für diesen Vorgang erforscht und die der Deracemisierung zugrundeliegenden Reaktionspfade genauer unter die Lupe genommen.

Die Abbildung zeigt eine Deracemisierungsreaktion, die kürzlich beschrieben wurde und in der ein racemische Aminosäurederivat, ein Hydantoin, mit Hilfe eines chiralen Photokatalysators und Licht, gezielt in ein Enantiomer überführt wird (J. Am. Chem. Soc. 2021, 143, 21241). Damit man im Produkt die vier Substituenten am stereogenen Kohlenstoffatom (C) besser erkennen kann, sind sie farblich markiert (H – Wasserstoff, N – Stickstoff, O – Sauerstoff). Der Enantiomerenüberschuss (ee) gibt an, wie hoch die Anreicherung des einen Enantiomers (Spiegelbild im Vergleich zu Bild) ist. Bei 0% ee liegt ein Racemat vor, bei 100% ee nur ein Enantiomer. Im vorliegenden Fall (97% ee) beträgt das Verhältnis 98.5 zu 1.5.